Texte über Wolf Vostell

Rolf Wedewer, Hinweise auf Wolf Vostell, 1992
Vostell. Retrospektive 92. Papierarbeiten, Intermedia – TV & Video. Ausstellungskatalog, Edition Braus, Heidelberg 1992, ISBN 3-925520-44-9

Wolf Vostell - schlagwortartig verbinden sich mit diesem Namen Erinnerungen an die künstlerischen Aufbrüche in den sechziger Jahren, an Environment, Installationen mit Fernsehgeräten, Happening und Fluxus und Dé-coll/agen und an Avantgarde und Skandal: Ein Ausbruch aus dem ästhetischen Getto, hinein in die unvermittelte Wirklichkeit der Gegenwart. Und nach wie vor versteht Wolf Vostell sich als Zeitzeuge und Beobachter. Sein Thema ist noch immer unsere Gegenwart, unsere Wirklichkeit. Wirklichkeit war und ist für ihn noch immer auch die Wirklichkeit menschlichen Handelns und Verhaltens. Entsprechend ist sein Werk auch nach wie vor Auseinandersetzung mit den Themen, die unsere Wirklichkeit dominieren - Auto, Fernsehen, politische Umwälzungen, Chaos und Destruktion-, ob in Zeichnungen, Filmarbeiten, Objekten oder in Gemälden. Die künstlerische Strategie wird dabei im Laufe der Zeit vielfach differenziert, der Motivkreis allmählich um Themen aus der Geschichte und des Mythischen erweitert, doch stets mit Blick auf das Jetzt. Die Frage damals war, wie konnte man die konkrete Wirklichkeit künstlerisch durchdringen? Die herkömmlichen Gattungen der Plastik, der Zeichnung oder der Malerei galten dafür als unzureichend; ihre Formulierungen hielten zu sehr auf ästhetische Distanz gegenüber den Niederungen des Alltags, als daß sie dessen Verhältnisse verbindlich und unmittelbar zu reflektieren vermöchten. Insofern mußte das abgeschlossene Kunstwerk unausweichlich für obsolet angesehen werden, wo geradezu programmatisch die Öffnung der Kunst gegenüber der Wirklichkeit gefordert wurde, und zwar nicht allein in einem motivischen Sinne, sondern in einem direkten und unmittelbaren Ausgriff: Die Wirklichkeit sollte zum integralen Bestandteil der Kunst werden. Logischerweise machten sich die Künstler daran, die Grenzen der herkömmlichen Gestaltungskategorien und Ausdrucksformen zu durchbrechen, neue Strategien zu entwickeln; die seinerzeit in diesem Zusammenhang propagierte Formel von einer »Expansion der Kunst« bezeichnet mithin nicht lediglich ein formales Programm, sie signalisiert vielmehr auf Seiten der Künstler einen grundsätzlichen Wandel des Verständnisses von Kunst. Kaum überraschend, daß dann auch wieder die Rede voneiner gesellschaftlichen Aufgabe der Kunst war, die diese wiedergewinnen müsse. Eine solche Forderung liegt durchaus in der Konseguenz einer unvermittelten künstlerischen Aneignung und Durchformung von Wirklichkeit, gleichwohl aber klingt sie nach sozialromantischer Utopie; man erinnere sich hier nur zum Beispiel an Schillers »Ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts«, an die Gesellschaftsvorstellungen, die der französischen Revolutions-Architektur eines Boullee oder Ledoux im ausgehenden 18. Jahrhundert zugrunde lagen oder schließlich an die Ideen eines Tatlin. Die Kunst unserer Zeit ist keineswegs bedeutungslos, aber sie hat keinerlei gesellschaftlich definierten Zweck, also keine Aufgabe mehr. Entsprechend ambivalent erweisen sich denn auch die künstlerischen Konsequenzen dieser Forderung nach einer gesellschaftlichen Begründung und Legitimierung von Kunst und ihre rezeptionsgeschichtlichen Auswirkungen.

Ein erster radikaler Schritt zum Neuen war mit dem Environment getan. Es würde zu weit führen, seine Entwicklung aus der Assemblage im Einzelnen nachzuzeichnen, deshalb nur so viel: Um den Realitätsgehalt eines Bildes anzureichern, begannen Künstler gegen Ende der fünfziger Jahre, im eigentlichen Sinne bildfremde Materialien wie Sand oder Glasbruchstücke in das Gemälde einzubeziehen. Andere Überbleibsel wie Holzteile, Blechreste oder bisweilen auch Maschinenteile kamen bald hinzu. Al­les Dinge, die zunächst zwar noch auf der Bildfläche haften, denen aber gleichwohl die Tendenz zur räumlichen Verselbständi­gung innewohnt. Diese Montagen verbin­den Elemente der Plastik, der Collage und der Malerei zu einer Mischform, die als Asemblage bekanntwurde. Die Konsequenz der Assemblage stellt das Environment dar, und zwar insofern, als hier Gegenstände, Bruchstücke oder auch Abfallreste nicht mehr auf einen Bildträger montiert werden, sondern direkt im Räume angehäuft, ohne sonderliche Planung, nur dem Zufall der Anordnung unterliegen. Mit diesen Akkumulationen oder Häufungen - wie wir sie von Arman, Kaprow, Oldenbourg usw. kennen - haben die entsprechenden Arbeiten Vostells kaum mehr gemeinsam als die Strategie des Prinzips Collage und die Haltung »alles, was da ist, zu akzeptieren«.

Vostell geht es nämlich nicht lediglich um eine räumliche Verselbständigung der Dinge, er entwirft oder baut ein Environment vielmehr wesentlich im Hinblick auf den Betrachter, oder besser den Benutzer. Erst durch dessen Beteiligung wird es im eigentlichen Sinne wirksam als Provokation des kritischen Bewußtseins. »Ich fand in der Kunst der damaligen Zeit, in der Aktionsmalerei, im Tachismus nur Elemente, die im eindämmernden Bewußtsein gedacht waren. Der Eindruck Paris (1954) war deshalb so stark, weil das Nachkriegs-Deutschland relativ ruhig war und ich zum ersten Mal mit einer komplexen Welt des 20. Jahrhunderts in dieser Stadt konfrontiert wurde. Und ich habe mir bewußt zur Aufgabe gemacht, den Akzent auf die destruktiven Elemente zu legen, diese bewußt zu machen, weil die Destruktion noch durch das ganze 20. Jahrhundert geht und sie das Rätsel ist, das uns immer wieder beschäftigt. Es hört gar nicht auf, dieses Chaos und diese Destruktion. Warum ist das alles und wieso ist das alles? Das kann ich nicht als Maler bewältigen, indem ich nur eine Zigarettenreklame abmale oder ein Foto von einem Pin-up-girl vergrößere. «"Eine erste folgerichtige Umsetzung in die künstlerische Praxis erfuhr diese Ansicht des Wirklichen bei Wolf Vostell in den rasch bekannt gewordenen Dé-coll/agen: Die aufwänden auf- und nebeneinander klebenden Plakate reißt Vostell solange auseinander, bis konträre Motive beziehungsweise Motiv-Frag­mente sichtbar werden: Die Kosmetikwerbung neben dem Antikriegsplakat usw. »Ich möchte durch meine Arbeit bei den Menschen Widerhaken im Bewußtsein hinterlassen, so daß sie die chaotischen Zustände schärfer beurteilen und sich entsprechend gegen sie verhalten können.« Dieses Nebeneinander des Gegensätzlichen, des Widersprüchlichen bestimmt entscheidend auch die Environment-Konzeption Wolf Vostells. In der Kategorie des Raumes wird die Vereinzelung thematischer und mithin auch formaler Aspekte, die in der Dé-coll/age naturgemäß nur tendenziell aufgehoben war, in eine unmittelbar erfahrbare Totalität überführt, in die Gleichzeitigkeit dessen, was unsere Umwelt ausmacht, was uns in der Umwelt und in der täglichen Praxis entgegensteht und uns in unserem Verhalten bestimmt oder doch - und sei es unbewußt - beeinflußt. Das Environment bezieht sich mithin auf die betonte Faktizitat der Dinge, auch auf ihre Banalität, ihre Belanglosigkeit, die gerade auch darin be­steht, daß sie übersehener Bestandteil des Alltags sind, ohne Bedeutung. Im Unter­schied etwa zum objet trouve sind sie als Teil des Environments bar jeglicher poetischer Verrätselung. Der Assoziationsradius des Environments gründet vielmehr in der Struktur der Ding-Kombinatorik. So, wenn etwa in dem »Elektronischen Dé-coll/age Happening-Raum« von Vostell zwei Stangen an ein normales Fernsehgerät montiert sind, zwischen denen ein farbbeschmiertes Tuch hin- un herschwenkt, vor dem Bildschirm, auf dem Reklamefetzen flimmern und Bildstörun­gen. An einer anderen Stelle des Raumes, dessen Boden mit Glasscherben bedeckt ist, eine Bombe, daneben eine unregelmäßig vorzuckende Sense und irgendwo dazwi­schen ein blasses Foto des Bundespräsidenten Heinrich Lübke mit seiner Frau vor dem Taj Mahal.

So gesehen erweist sich das Environment in seiner künstlerischen Verdichtung von Situationen einerseits als vielfältiges und weitreichendes Modell von Verhaltenswei­sen. Zum anderen verstehen wir es als ein Modell der umgebenden Wirklichkeit, freilich nicht im Sinne theoretischer Verallge­meinerung, sondern eher in Analogie zu einem Simulator. Von daher erscheint es zumindest tendenziell einleuchtend, daß und wieso in diesem Zusammenhang die - utopische - Gleichsetzung von Kunst und Leben erneut propagiert wurde. Obwohl geschichtlich längst überholt, begegnen wir dieser Formel immer wieder in der Geschichte der Kunst unseres Jahrhunderts. Ihre Wurzeln reichen, wie schon angedeutet, bis in die Romantik und weiter zurück. Mit der künstlerischen Entdeckung der Werke sogenannter Primitiver Kulturen zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam eine weitere Dimension hinzu, die Ursprünglichkeit von Kunst und Lebensformen in fernen Welten.

Doch wo und wie auch immer, auf wechselnde Weise zwar, aber durchgehend liegt dieser Gleichsetzung von Kunst und Leben jene Vorstellung einer wechselseiti­gen Verschränkung zugrunde, wie wir sie etwa aus Afrika kennen, wo die Kunst eine anschauliche Vergegenwärtigung jener un­sichtbaren Mächte oder Kräfte leistet, die Leben und Ordnung der Gemeinschaft strukturieren. Bezeichnenderweise wurden die »primitiven« Werke vielfach denn auch als Zeugnisse der verlorenen Einheit von Kultur und Natur gesehen, als Zeugnisse einer Lebensform, da die Kunst noch integraler Bestandteil der alltäglichen Wirklichkeit war. Diese sozial-romantisch grundierten und häufig utopisch ausgerichteten Ver­ständnisweisen des Fremden - und daraus abgeleitet oftmals mancher modernen Kunst-Intentionen, übrigens bis in die Gegenwart hinein aktuell.

Wenn wir durch diese exotischen und primitiven Dinge fühlend hindurch­wandern, wird uns das Unterbewußte wieder lebendig, Wesens-Schau, Ganzheit, Einheitlichkeit.«

Verweisen wir schließlich noch auf die ästhetischen Programme des Bauhauses und des Stijl, dann zeigt sich mit aller gebotenen Deutlichkeit, daß der angestrebten Gleichsetzung von Kunst und Leben in den sechziger Jahren eine völlig andere Qualität zukommt. Damit ist weniger ihre geschicht­lich überholte Position gemeint als vielmehr die künstlerische Strategie ihrer Verwirklichung: Nicht künstlerische Gestaltung der Wirklichkeit wie die auch verstanden sein mag -, sondern Aneignung und Integration der Wirklichkeit durch Änderung der Kunst.

Wenn die Kunst unmittelbar die Wirklichkeit einbezieht oder in die Wirklichkeit ausgreift, wie im Happening, dann reduziert sich notwendig die Rolle der künstlerischen Gestaltung und mithin der Form; an Bedeutung gewinnt stattdessen der Akt der Präsentation: die Bestandsaufnahme und Durchdringung der Faktenwelt. Die »Ex­pansion der Kunst« ist derart gleichbedeu­tend mit einem künstlerischen Totalan­spruch, wie ihn neben dem Dadaismus erst­mals wieder der Surrealismus erhoben hat. Wie weit Wolf Vostell auch entsprechende dadaistische und surrealistische Elemente in seine Environments übernommen hat das zu analysieren wäre einer eigenen Arbeit wert -, ein gravierender Unterschied bleibt bestehen. Vostells Totalitätsanspruch an die Wirklichkeit zielt nicht auf eine Bestands­schilderung und auch nicht allein auf den Bewußtseinsraum des Individuellen
und Subjektiven.

Wolf Vostell sieht die Totalität des Wirklichen vielmehr in ihren symptomatischen Aspekten gegeben. Sein Porträt Rudi Dutschkes beispielsweise ist kein Psychogramm eines bestimmten Einzelnen, son­dern die Darstellung einer Person, die für einen komplexen Zusammenhang steht; für seine Environments sodann benutzt er ausgesucht Gegenstände, die als Alltagsgegenstände simpel sind; erst in der absichtsvollen Kombination mit anderen ebenso simplen Dingen gewinnen sie eine aufstörende Ambivalenz.

Ein Löffel zum Beispiel ist nichts als ein Löffel, ein Stück Stacheldraht nur ein Stück Stacheldraht, zahllose Löffel jedoch zwischen Stacheldrahtwänden, zwischen denen der Besucher hindurch muß, da wer­den unversehens Erinnerungen hervorge­trieben, da werden Schrecknisse unvermittelt gegenwärtig. Totalität des Wirklichen, das ist bei Vostells Environments immer auch die Gegenwart von Geschichte, das ist immer auch das unauflösliche Ineins von Tun und Bewußtsein. Erst die Einsicht in die Vielschichtigkeit des Wirklichen, in seine Widersprüche bietet die Möglichkeit, die ei­gene Situation zu erkennen. Wolf Vostells Arbeiten sind, so gesehen, eine massive Kritik des subjektiven Bewußtseins. Kritik des subjektiven Bewußtseins ist jedoch immerauch Kritik sozialer Wirklichkeit. Radikaler noch als das Environment greift das Happening in die kunstfremde, in die unkünstlerische Wirklichkeit aus. Man könnte es bezeichnen als ein in einen zeitli­chen Ablauf überführtes Environment, als dessen Theatralisierung. Denn im Unterschied zum Environment, wo der Betrachter nur in sehr begrenztem Maße agieren konnte, kommt ihm beim Happening als einer Aktion eine konstitutive Rolle zu. Inso­fern zielt das Happening in besonderer Weise wo nicht auf die Aufhebung, so doch auf die Verwischung der ansonsten so deut­lichen und kaum zu überwindenden Trennlinie zwischen Kunst und Leben, vor allem durch die konstitutive Einbeziehung des Pu­blikums in den schöpferischen Prozeß, in das geplante Spontangeschehen.

Diese Formulierung bedeutet insofern kein Paradoxon, als das Happening zwar einerseits eine gewisse Choreographie voraussetzt, zugleich aber andererseits einen gewissen Freiraum für die augenblickshafte Reaktion der Beteiligten einkalkuliert. Wie auch sonst ließe sich die Kunst dem Leben integrieren, wenn nicht das Leben Einfluß auf die Kunst gewänne? Schließlich soll die Kunst hier doch unvermittelt ein Ausdruck des Lebens und seiner alltäglichen Bedingtheiten sein, sollen deren Strukturen sich hinwiederum in der Kunst manifestieren.
 

Wie aber werden diese Ansprüche in der Praxis des Happenings eingelöst? Zwar können wir innerhalb des vorgegebenen Rahmens nicht näher auf die vielfältigen kritischen Vorbehalte eingehen, und ebenso­wenig können wir hier die einzelnen Aktionen Vostells kritisch miteinander vergleichen. Orientieren wir uns angesichts höchst verschiedenartiger Konzeptionen des Happenings an ihrem kleinsten gemeinsamen Nenner. Ihnen allen ist durchgehend ein ge­wisses theatralisches Moment zugehörig, mit dem Publikum als Akteur. Beispielhaft sei dafür Wolf Vostells Konzept seines 1964 auf Long Island veranstalteten Happenings »You« zitiert. »Es fand statt in einem weißen, leeren Swimmingpool, gefüllt mit einhundert gel­ben, blauen und roten Plastiksäcken, mit Farbe, Knochen und Rippen von Ochsen und auf einem gelb gefärbten Tennisplatz« - »Meine Grundidee: Die Beteiligten, das Publikum, in einer Satire den Zumutbarkeiten des Lebens in der Form einer Probe des Chaos zu konfrontieren und die Absurdität im Absurden und Widerlichen bewußt zu machen. Geschehnisse: Im weißen Swimm­ingpool ein Berg aus Menschen - diese vermischen sichmit den Farbsäcken - die blauen, roten, gelben Farbsäcke platzen -ein Chaos von Menschen, Farben und Kno­chen, die sich einige an den Körper binden. - Im farbigen Wasser schreibt jemand auf einer Schreibmaschine: You ... you ... you. Drei Farbfernsehgeräte stehen in drei wei­ßen Hospitalbetten - drei verschiedene Ba­seballprogramme sind von mir deformiert -L.E. liegt, hopst und springt nackt auf einem Trampolin - neben sich zwei blutige frische Ochsenlungen. CS. liegt auf einem Tisch mit einem Staubsauger auf dem Bauch, den sie ab und zu betätigt - auf dem Tennisplatz liegen 15 Menschen auf der chromgelben Erde ... Ein TV-Gerät läuft, Ton und Bild -das Gerät brennt - auch Baseballreklame -nach fünf Minuten. Der gelbe Tennisplatz wird mit Signalbomben in dichten gelben Rauch gehüllt. Das Publikum trägt Gasmas­ken. Durch einen Wald schlängelnd, findet das Publikum wieder zu den Bussen, die es nach Manhattan bringen.«

Es ist immer problematisch, von Ereignissen zu schreiben, an denen man nicht teil­genommen hat und wo man sich folglich nur auf alte Berichte und einige Fotos berufen kann. Unter diesem Vorbehalt also: Bei dem Long Island-Happening sind zunächst  überwiegend Bruchstücke der unterschied­lichsten Art, wie etwa die Farbsäcke oder die Knochen, an einem Ort - nämlich dem Swimmingpool - zusammengebracht worden, mit dem sie in keinerlei Zusammen­hang stehen. Sie stehen gewissermaßen für eine Wirklichkeit jenseits der umzäunten Feierabendrealität. Erst durch dieses plan­voll versammelte Szenarium des Willkürlichen kommt es zu den von Vostell beabsichtigten Bildern des Chaotischen, Absur­den, deren einzelne Bestandteile durch die Aktivierung des Publikums so ungemein assoziationsträchtig werden. Knochen etwa verwandeln sich von störenden Schlacht­hofresten in Erinnerungsstücke atavistischer Symbole und deuten, wie die Fleischfetzen, auf Rituale der Gewalttätigkeit.

Umso stärker kontrastieren sie dann mit den dadurch absurd anmutenden Trampolin-Übungen, mit der in diesem Zusammenhang unversehens lächerlich werdenden Reklamesen­dung: unvermittelt bedrohlich scheinende Fragmente verschiedener Welten, die doch nur eine sind. Wirklichkeit wird da - zumal wenn dem Ort der Aktion eine gleichge­wichtige Bedeutung zukommt wie den Ver­satzstücken des Alltags und den Banalitäten - als etwas Chaotisch-Vielschichtiges vorge­führt. Mit anderen Worten: Das Happening durchstößt hier die Außenfläche der Wirk­lichkeit und stellt dabei ihre Ordnung als eine scheinbare auf den Kopf. Kombinierend, präsentierend, aktivierend, collagierend zeigt es die Wirklichkeit als ein wirres Konglomerat von Oberfläche und verborgenen Trieben, von Vergnügen und Gewalt, von Idyllik und Banalität und Tod. Vertraute Motive der Kunstgeschichte werden aus der abgeschlossenen Einheit eines Gemäldes oder einer Plastik übersetzt in die Unmittelbarkeit der Aktion, von der ein jeglicher Beteiligter unmittelbar persönlich getroffen ist. Insofern kann man hier ohne Einschränkung von einer aufschließenden Einbeziehung außerkünstlerischer Realität in die künstlerische sprechen.

Bedenklich hingegen wird es, wenn im Zusammenhang etwa mit den Studenten- Unruhen 1968 und in ihrer Folge jegliches Ereignis zum künstlerischen Akt, der Protest zum »wirklichen« künstlerischen Ausdruck, endlich die Wirklichkeit schlichthin zum Kunstwerk erklärt wird. Wenn zwischen künstlerischer und außerkünstlerischer Rea­lität nicht mehr unterschieden wird, erscheinen zwangsläufig beide Bereiche zur Tautologie verharmlost. Aus der Formel Kunst = Leben wird unversehens die apo­diktische Behauptung Kunst = Aktion = Politik. - Politische Motive als einzige Berechtigung noch von Kunst.- Treffend überschrieb Marianne Kesting ihre kritische Anmerkung zu Vostells Buch »Aktionen« denn auch » Auf der Suche nach der Legitimation«; wo die künstleri­sche Potenz eines Werkes als unzureichend verworfen, wo nicht gar denunziert wurde als bürgerliche Verschleierung der Wirklichkeit, bedurfte die Kunst notwendig einer neuen Begründung. Das Schlagwort hieß: gesellschaftliche Relevanz. Marianne Kesting bringt diese Einstellung auf den Punkt, wenn sie dann schreibt: »Die Kunst, die in der modernen industriellen Gesell­schaft zum Außenseiter der Gesellschaft degradiert worden ist, rächt sich, indem sie behauptet, diese Wirklichkeit der industriellen Gesellschaft gehöre ihr, sie selbst sei be­reits Kunstwerk. Es bedarf also vor allem dieses Hinweises, der ein reales Ereignis zum Happening, also zum Kunstakt macht. Was sich in diesen Kundgebungen manife­stiert, ist im Grunde nichts anderes, als daß der Künstler seine Oppositionshaltung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit aufgegeben hat und sich der ihn umgebenden Wirklichkeit zur Selbstaufgabe anpaßt und einfach sagt, sie selbst sei ein Kunstakt. Er adaptiert mit einem listigen Handstreich die Realität, die nicht von ihm, sondern durch ganz an­dere Faktoren bestimmt ist: Durch Industrie, Technik, Naturwissenschaft, Management, Handel, Wirtschaft... Einerseits wirft sich die Kunst einer fragwürdigen Wirklichkeit an den Hals und paßt sich ihr an. Anderer­seits sucht sie sich ihrer alten oppositionel­len Haltung wieder zu bemächtigen, indem sie sich der Revoltejeder Art annimmt, ganz gleich welcher Richtung.

Das, was sie einzig kann, nämlich Kunst formulieren, will sie nicht mehr - oder kann sie nicht mehr. Des­halb gibt man neuerdings so viele Dokumentationen heraus. Nie war sie so auf sekundäre Medien, auf Photographie, Tonbandgerät, Reproduktion im Buch angewie­sen wie heute. Wobei sie für Reproduktion von Wirklichkeit sorgt und immer darauf hinweist, daß eben das ein künstlerischer Akt sei, obgleich sich der Reproduktionsmedien, genau genommen, auch andere Leute bedienen können als Künstler.«Angesichts dieser Analyse sind die letzten Sätze ihrer Kritik-vor allem auch im Zusammenhang unserer Überlegungen - umso aufschlußreicher; Marianne Kesting schließt: »Statt dieser Art Dokumentationsbände, deren es genug gibt, sähe man gern einmal einen Band mit den großartigen Plakaten und Dé-coll/agen von Vostell. Oder macht er keine mehr?«

Bemerkenswert sind diese Sätze, weil sie auf die Doppelstrategie von tagesgebotener Programmatik und künstlerischer Nachdenklichkeit hindeuten und derart auf ein Phänomen aufmerksam machen, das sich bis auf den heutigen Tag auf die Diskussion des Vostellschen Werkes auswirkt - auffälligerweise vorwiegend in Deutschland. Ge­meint ist das merkwürdige Faktum, daß die Sicht auf das Vostellsche Werk sich hierzulande noch immer überwiegend auf die Ar­beiten aus den sechziger Jahren beschränkt, oft gefiltert zudem durch die Erinnerung an kunstpolitische Tagesquerelen, um Prioritätsfragen etwa, die bereits damals mit künstlerischen Fragen nichts zu tun hatten und heute mithin erst recht belanglos sind. Nur eben wird von dorther übersehen, daß Wolf Vostell als einer der wenigen Künstler jener Zeit vermocht hat, die damals angelegten künstlerischen Strategien konsequent und doch zugleich offen weiter zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund sollte einsichtig sein, wie unzutreffend der Versuch ist, Vostell auf einige wenige - überdies politisch grundierte - Positionen des Zeitgeistes während der sechziger Jahre einschränken zu wollen, die im Zusammenhang des Werkganzen so etwas wie Abseitspositio­nen waren - wohlgemerkt in programmati­scher Hinsicht, kaum aber in der künst­lerischen Umsetzung.
Man muß lediglich einmal die Environments, die Dé-coll/agen, die Zeichnungen, Gouachen über Fotografie usw. und schließlich die Gemälde als das sehen, was sie sind: eine hellsichtige Fokussierung der Wirklichkeit
.

Es lag zweifellos in der Zeit und ihren massiven Verwerfungen begründet, daß Wolf Vostell nicht unberührt blieb vom offenkundigen Faszinosum der Tautologie von Kunst und Politik. Daß die Künstler freilich sich dieser Gefahr der Selbstaufgabe durchaus bewußt waren, belegt eine Erklärung von Allan Kaprow. Zur Intention, im Happening den Betrachter aktiv mitspielen zu lassen, ihn »instrumentell« einzusetzen, notiert Kaprow: »Man ist hier nicht mit der Ablehnung der Kunst konfrontiert, sondern mit einer Erweiterung ihrer Domäne und ei­ner Verwischung ihrer Grenzen, denn weit davon entfernt, hier Halt zu machen, fahren diese Künstler fort, eigene Werke zu machen.«

Fragen wir hier nicht weiter nach der lo­gischen Verbindung zwischen einer Erweiterung der Domäne von Kunst und der Tatsache, daß die betreffenden Künstler gleichwohl nicht aufhören, auch »eigene« Werke zu schaffen - es dürfte mit dem Unterschied zwischen Grenzverwischung und Grenzüberschreitung zu tun haben. Warum also beharren wohl die Künstler nach wie vor auf dem Eigenen? Gemeint sind damit doch wohl die überkommenen Gestaltungskategorien, auch wenn diese formal und/oder inhaltlich erweitert sein mögen. Ein Grund sicherlich ist, wie angedeutet, die Einsicht in die gefährlichen Konsequenzen einer Tautologie von Kunst und Wirklichkeit. Damit korrespondierend ein anderer, die Einsicht nämlich, daß gerade bei einem unmittelbaren Ausgriff in außerkünstlerische Realitäten Distanz eine Vorbedingung von deren künstlerischer Aneignung ist. Entgegen dem Augenschein ist sie dem ei­gentlichen Happening notwendig mit seiner Choreographie bereits eingegeben; beim Environment diagnostizieren wir sie in seiner mehr oder minder offenkundigen Ordnung, während sie bei einem Bild in dessen Abgeschlossenheit besteht. Erst diese Distanz ermöglicht, Realität als ein vielschichtiges Konglomerat und nicht nur als statisch platte Außenfläche zu zeigen, auch wenn Distanz in diesem Sinne notwendig keine feste Größe bedeutet, sondern viel­mehr als ein relativer Faktor aufgefaßt werden muß. Doch unabhängig davon sind die künstlerischen Auswirkungen nicht unerheblich.


Wie Happenings, Environments oder beispielsweise die Dé-coll/agen Vostells auf eigene Weise jeweils belegen, ergibt sich erscheinende Wirklichkeit seinem künstlerischen Ausgriff vorwiegend über die Strategie des Prinzips Collage. Gegenüber den Anfängen im Kubismus setzen Vostell und andere Künstler dieses Prinzip natürlich in einer modifizierten Form ein. Was damit gemeint ist, mag aus der Bestimmung des Happenings oder des Environments als einer räumlich ausgelegten Objekt-Collage verständlich werden. Wenn beispielsweise Picasso seinen Bildern Tapetenstücke oder Zeitungsfetzen einfügt, so war deren Bedeutung eine zweifache. Einerseits mußten diese Materialien sich sowohl farblich wie auch formal in die Komposition des Bildes einpassen, andererseits und zugleich aber sollten sie unbeeinträchtigt als Fragmente einer außerkünstlerischen Realität erscheinen.

Die Radikalisierung dieses Prinzips Collage durch Vostell und andere Künstler wie Kaprow, Rotella, Rauschenberg usw. geschieht so einfach wie entschieden da­durch, daß Realitätsfragmente oder reale Objekte nicht mehr einer vorbestimmten Ordnung integriert
werden, sondern umgekehrt erst ihre planvolle und doch bewußt von Zufälligkeiten bestimmte Versammlung diese ihre eigene chaotisch anmutende Ordnung hervorbringt, die Ordnung der Dinge. Sie fügen sich nicht zur Wirklichkeit, sondern zu einem kritischen »Bild« der Wirklichkeit; freilich von berührender Direktheit. Vorausgesetzt, der Teilnehmer oder wieder auch der Betrachter läßt sich nicht abwehren von der ästhetischen Provo­kation, die Vostells Arbeiten bewirken.Die - formale - Geschlossenheit eines Gemäldes rücksichtslos mit assoziationsträchtigen Fragmenten und Dingen wie Knochen, einem TV-Gerät oder einer Sense aufzubrechen, bedeutet für den Betrachter eine Konfrontation, die er gewiß nicht immer als Erfahrungszuwachs begreifen mag. Knochen in ein ansonsten »konventionelles« Gemälde collagiert, mag man meinethalben als degoutant empfinden, die Montage eines Stierschädels auf die Kühlerhau­be eines Luxusautos als pure Effekthasche­rei oder die Einbetonierung eines Autos zum »Ruhenden Verkehr« als unverschämt einstufen: Jede dieser Provokationen macht umso deutlicher, daß wir in Vostells Arbei­ten jenen Provokationen der Wirklichkeit begegnen, denen wir im Alltag lieber aus­weichen.Kunst als anschauliches Denken hat ge­meinhin die Verbindlichkeit im Abstrakten, im Theoretischen nur, das folglich den einzelnen Betrachter nicht unmittelbar angeht. Indes genau diese Position unterminiert Vostell konsequent. Daher erscheint es unverständlich, wenn Vostells Bemerkung, Kunst interessiere ihn nicht, als Zeugnis für die Unref lektiertheit seines Tuns aufgerufen wird. Vostells Bemerkung zielt vielmehr auf jenen immer wiederkehrenden Punkt, wo neue Kunst die alte Kunst überschreitet.


Wiederum treffen wir auf den entscheiden­den Unterschied zwischen der Verwischung einer Grenze - wie schon gezeigt - und der Überschreitung einer Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit; das Überschreiten der Grenze beläßt den Ausgangspunkt, nämlich die künstlerische Struktur, erkenn­bar. Von daher verliert die Gleichsetzung von Kunst und Leben auch programmatisch ihre Balance; zwar können wir bei Vostell die Kunst in ihrer kategorialen Erweiterung und ob ihrer Themen und Motive bis zu einem gewissen Grade mit dem heutigen Leben und seiner alltäglichen Praxis gleichsetzen, aber die Umkehrformel Leben = Kunst gilt nicht. Über die ästhetische Gren­ze hinaus führt nur eine Einbahnstraße. Derart freilich wird der Ausgriff in die Wirklichkeit zur kritischen Diagnose, gewinnt die kritische Diagnose allgemeine Gültigkeit. Um das Gemeinte zu veranschaulichen, sei beispielshalberverwiesen auf eine Arbeit wie »Beton. Barrikaden, Mai 1968«, eine Gouache über Fotografie von 1970/84. Eine Pariser Straße mit zahlreichen beschädigten und zerstörten Autos. Der Fotografie sind Betonformen unbestimmter Funktion ein­gemalt. Teils umschließen sie einige der Au­tos wie eine Art schützender Ummantelung, sind auf die Straße gelastet, teils aber schweben sie stockwerkhoch wie Ufos, was der Situation etwas ungemein Bedrohliches aufzwingt. Wir brauchen die Arbeit nicht im einzelnen zu beschreiben; worauf es ankommt, ist vornehmlich die Tatsache, daß durch die Übermalung mit betonhaften Formen die Realität eines bestimmten Augen­blicks an einem bestimmten Ort in eine allgemeingültige Darstellung überhaupt von Bedrohung und Gewalt umgebildet wird. Mit anderen Worten: Vostell durch­bricht das Äußerliche. Er rückt das Bild von Zerstörung und Gewalt aus der Aktualität des Anlasses, läßt es zeitlos werden. Und trotzdem bleibt es zugleich auch das: Zeugnis. Oder verweisen wir, um ein anderes Bei­spiel zu zitieren, auf die Arbeiten zum Fall der Berliner Mauer. Wiederum eine konkrete Situation und doch zugleich transponiert auf die Ebene des fortwährend gültigen Ausdrucks. Nicht eine Menge von Menschen zwängt sich durch den Bruch in der Mauer, vielmehr stürzt eine aufgestaute Menschenflut durch die noch schmale Öffnung. Die Gesichter ohne individuelle Züge, nur ungläubige Angst-Verzerrungen, noch ohne Andeutung von Erleichterung. Vostell intensiviert solcherart die Augenblicklichkeit des schieren Jetzt, ohne Vorher und Nachher. Und doch hält das Bild durch die Formulierung der zahllosen Menschen als einer sich dem Betrachter entgegenwälzen­den Flut das einzwängende Vorher des Durchbruchs unvermittelt präsent. Nicht eine Schilderung, sondern eine Metapher für Zwang und Angst und Flucht.

Führen wir ein Gemälde an, um die Varia­bilität, aber auch die Konsequenz der künstlerischen Strategie Vostells zu veranschaulichen, die »Schlacht von Anghiari« aus dem Jahre 1982, wo einer in harten Zügen umrissenen kriegerischen Reiterszene eine Anzahl von Knochen und scharfschneidigen Sicheln appliziert sind. Symbole der Aggressionen des Todes. Ein Zugleich von Vergangenheit und Gegenwart, von Aufbäumen und Niederlage, von Flucht und Tod. Ein anderes Beispiel noch, Fotografien der Berliner Trümmerlandschaft 1945, aufgenommen kurz nach Ende der Kämpfe. Menschenleer, trostlos, wie seit langem und für immer verlassen. Doch dann läuft über einen eingebauten kleinen Bildschirm eine Endlosrolle mit farbigen Werbespots. Ein frappierender Zeitsprung im Bild, einerseits von vordergründiger Banalität - doch eben darum registrierend und unsentimental -, andererseits aber auf paradox anmutende Weise gerade deshalb so eindringlich.

Wirklichkeit erscheint nicht als statisch, nicht als Zustand, sondern als Prozeß. Derart konfrontiert Wolf Vostell den Betrachter auch mit der Unausweichlichkeit von Zeit, die er zugleich als Betrachterzeit definiert; Zeitmonograpie und biographische Zeit. Collagen des Unterschiedenen und Gegensätzlichen, Dé-coll/agen des scheinbar Einheitlichen und fraglos Selbstverständli­chen: Vostells kritische Analyse der umgebenden Wirklichkeit, ihrer Widersprüchlichkeit, Banalität und Vielschichtigkeit zielt folgerichtig auf die Gegenwart und die für sie charakteristischen Situationen und Konstel­lationen. Doch weil er diese nicht nur von ihrer Außenfläche her wahrnimmt, sondern das Gegebene jeweils zugleich als allgemei­ne Figuration von Bewußtseins- und Verhaltensweisen erkennt, sind in der Konse­quenz seine Arbeiten - ob Happening, Environment, Film, Zeichnung oder Gemälde -stets auch Beiträge zu einer Archäologie der Gegenwart.










Klaus Honnef, Montage als ästhetisches Prinzip, Zum Werkbegriff von Wolf Vostell
Vostell. Retrospektive 92. Papierarbeiten, Intermedia – TV & Video. Ausstellungskatalog, Edition Braus, Heidelberg 1992, ISBN 3-925520-44-9

Wolf Vostell sieht sich als legitimer Nachfahre von Dada, und seine Ansicht trifft in gewissem Sinne auch zu. Selbst in dem Paradoxon, daß er in der Tradition einer künstlerischen Manifestation steht oder zu stehen glaubt, die aufgrund ihres Selbstverständnisses gar keine Tradition ausbilden wollte. Manifestation ist wohl auch der treffendste Ausdruck dafür, denn um eine künstlerische Bewegung handelte es sich nicht, obwohl ein zeitgenössischer Briefbogen von >mouvement dada< spricht. Man müßte allerdings noch hinzufügen, daß Vostell sich auf Dada in Berlin bezieht, vor allem der politischen Note wegen. Aber entscheidender als diese ist für die behauptete Affinität dennoch eine strukturelle Nähe seines künstlerischen Werkes zu den formalen oder, je nach Standpunkt, antiformalen Antriebskräften, die Dada ins Werk setzten. »Tatsächlich hat Dada die Bildende Kunst nicht anderen Künsten vorgezogen, sondern, gerade, weil Dada die klassische Ordnung der künstlerischen Disziplinen bekämpfte und zu zerstören suchte, gehen in der dadaistischen Produktion alle Bereiche kreativer Äußerungsmöglichkeiten - literarische, musikalische, bildnerische, gestische, tänzerische, rednerisch-evokatorische - gleichwertig fließend ineinander über und bilden zusammen ein dynamisches Ganzes. 

Das Moment des Zufalls spielt auch zumindest im früheren Werk von Wolf Vostell eine beherrschende Rolle, und der disziplinen-und medien-überschreitende Charakter ist dessen äußeres Merkmal und inneres Gesetz zugleich. Doch damit ist noch nicht die entscheidende formale Figur benannt, wodurch erst sieht-, hör- und überhaupt erfahrbar wird, was sowohl die Dada-Künstler als auch ihre künstlerischen Erben zum Aus­druck bringen wollten.
Ihre Vorstellungswelt nämlich vergegenständlicht sich im ästhetischen Strukturmodell der Montage. Mit einigem Vorbehalt kann man in Anlehnung an Erwin Panofskys plastische Formel von der »Perspektive als symbolische Form« die Montage als das symbolische formale Äquivalent bezeichnen, das in der zeitge­nössischen Kunst, zumal in ihrer avancierten Erscheinung, die Perspektive abgelöst hat. Im Symbolbild der Montage findet darüber hinaus auch die kollektive Wahrnehmung einer konfliktreichen, widersprüchlichen, alogischen und unüberschaubaren Realität die einzig überzeugende, weil auch plausible ästhetische Widerspiegelung. Statt »Durchsehung» der empirischen Realität mithilfe der Kunst, jener Begriff, den Albrecht Dürer für die Perspektive verwendet hat, ihre - in den Worten von Walter Benjamin - »Durchdringung... mit der Apparatur«, unter Belassung der nicht auflösbaren Widersprüchlichkeiten und Sprünge. Eine authentische Alternative dazu gibt es in der Kunst, hält man daran fest, daß sie ein Stück Wahrheit über die Verhältnisse und Verwicklungen des Daseins offenbaren soll, nur in der konsequenten Verweigerung, in der entschlossenen Verwirklichung eines radikalen Autonomieanspruchs.

Vollkommen zu Recht bringt Eberhard Roters das Auftreten der Montage in der Kunst mit dem »Verfall eines von einer zentralen Idee zusammengehaltenen einheitlichen Weltbildes zugunsten eines pluralistischen, heterogen zusammengesetzten und nicht mehr in allen seinen Teilen zu erfassenden und zu überschauenden Bildes von Welt, das unserem Bewußtsein heute seine Vorstellungsinhalte vermittelt«, zusammen. Die Montage ist demzufolge kein austauschbares formales Strukturmodell, mög­lichen anderen ebenbürtig, sondern, eben weil die Montage Zeit und Raum der Wahrnehmung als etwas Diskontinuierliches und Unstetiges, sich wechselseitig auch permanent Relativierendes aufscheinen läßt, durchgängiges ästhetisches Prinzip der avancierten zeitgenössischen Kunst. Auch die Erfahrung von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist im formalen Prinzip der Montage verkörpert. Dank der besonderen Voraussetzungen und Bedingungen, die gegeben waren, als Vostell seine ersten künstlerischen Schritte unternahm, war es selbstverständlich, daß er sich des ästhetischen Formprinzips der Montage so bediente,wie Francisco Goya seine bedrückenden Visionen an das »konkrete sinnliche Zeichen« (Ernst Cassirer) der Perspektive knüpfte. Der ästhetisch erschöpfte Kult der Innerlichkeit und der subjektiven Expression hatte in den fünfziger Jahren sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten von Amerika zunächst unabhängig voneinander eine ganze Generation junger Künstlerinnen und Künstler auf den Plan gerufen, die auf die entleerte Bildwelt der informellen Malerei und den oberflächlichen Ästhetizismus der Ecole de Paris mit der kämpferischen Parole »Leben als Kunst - Kunst als Leben« antworteten. Ein »neuer Realismus« - unter diesem Schlagwort schrieb der Kritiker Pierre Restany einer Gruppe vorwiegend französischer Künstler das Programm - brach sich Bahn und spülte in den kommenden zwanzig Jahren die Bildwelt hinweg, die sich im Laufe des Weltkriegs und den frühen Jahren danach nicht zuletzt als Reaktion auf eine als unerträglich empfundene Realität ausgebildet hatte. Mitunter wurde diese allmählich immer mächtiger werdende Strömung der zeitgenössischen Kunst, die außerhalb der etablierten Galerien und Museen entsprang, auch als »Neo-Dada« apostrophiert. Gegen die delikate Peinture im Gepräge der französischen Malschule mobilisierte sie die kruden Kristallisationsformen der empirischen Realität, beinahe alles, was in der seinerzeit angesehenen Kunst verpönt war, die kommerzielle Ästhetik der Massenkultur ebenso wie die massenhaft fabrizierten Erzeugnisse der Dingwelt oder die sichtbaren Folgen der modernen Zivilisation mit ihren vielfältigen Auswüchsen.

Zwar wiederholt sich Geschichte in der Regel nicht, und andererseits lernt man nicht aus den Ermahnungen des Lebens, wie das Schulbuch lehrt, oder nur zögerlich und über lange Phasen hinweg. Doch wiewohl vieles nicht vergleichbar ist, erweckte das Klima allgemeiner kultureller Restaurationen der westlichen Welt während der fünfziger Jahre unter den besonders feinfühligen Künstlern am Anfang ihrer Laufbahn homologe Reaktionen wie unter ihren Vorläufern der vermeintliche Zusammenbruch von bürgerlicher Welt und bürgerlichen Werten am Ende des 1. Weltkrieges. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, daß die Montage, die einst das ästhetische Signum der künstlerischen Einmischung
in die Verhältnisse der Realität gewesen ist, durch die Künstler einer von neuem sensibilisierten Aufmerksamkeit für die spezifischen Umstände der Zeitläufte als visuelles Erkenntnismittel gleichsam wiederentdeckt wurde. Man näherte sich ihr allerdings auf Umwegen. Abermals war es wie im Fall von John Heartfield die Reklame, die als Katalysator fungierte. Freilich weniger die Reklame in den illustrierten Zeitschriften als vielmehr die Werbung auf den riesigen Schautafeln mit den suggestiven fotografischen Appellen im verkehrsreichen Getriebe der Großstadt. Deren Zustand nach anhaltender öffentlicher Präsentation und Wirkung, herbeigeführt durch handgreifliche Reaktionen der Passanten, die Teile aus den Plakatflächen herausgerissen hatten, lieferte wohl die eigentliche künstlerische Initialzündung. Als »De-coll/age« faßten die Künstler
diesen Zustand in die begriffliche Sprache und machten sich die Technik des Zufalls, der dafür verantwortlich war, als künstlerische Technik, die den Zufall von nun an einplante, phantasievoll und gelegentlich virtuos zunutze.

Es leidet keinen Zweifel, daß Vostell über die Dé-coll/age sowie die Werkgruppe von »Verwischungen«, in denen er dieTitelblätter illustrierter Zeitschriften oder markante Zeitungsfotos mit Farbe überzog, gewissermaßen auslöschte und ihre fotografische Schein-Realität durch eine autonome künstlerische Wirklichkeit ersetzte, zur Montage gelangte. Zunächst verband er noch beide Formen, wobei er in der Angabe der Technik die Bezeichnung »Collage« wählte. Ein Schlüsselbild dieser Werkfolge trägt den Titel »Marilyn« (1963); es ist eines der zahlreichen Bilder jener Zeit, die Marilyn Monroe zum Idol verklärten. Die offenbare Aggressivität des gewaltsamen Abrisses fest aufgeklebter fotografisch reproduzierter und gedruckter Blätter und die perfekt montierte Abfolge stereotyper, fotografischer Glamour-Portraits des Idols verschmelzen in der Tat zu einer hellsichtigen, »apparativen Durchdringung« der Mechanismen eines bedeutenden Realitätssegments, der sich mächtig entfaltenden Unterhaltungsindustrie, die der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger als »Bewußtseinsindustrie« in diesen Jahren beschwor, mit durchaus visionären Zügen. Eine Montage wie diese mit Elementen aus De-coll/age und Collage verweist sowohl auf eine kritische Haltung gegenüber der sich damals bereits verhärtenden Tradition der Avantgarde als auch auf den aktuellen
gesellschaftskritisch motivierten Protest aus dem nihilistischen Geiste Dadas, und, montiert zum surrealistisch angehauchten Schockeffekt, mutet sie an wie ein Vorgriff auf die späte Moderne mit Jacques Derridas häufig zitiertem Begriff der »Dekonstruktion«.


In der Terminologie der Kunstkritik verschwimmen die Bezeichnungen wie Montage, Collage und - dem sogenannten »Materialbild« vorbehalten - Assemblage. Während »Collage« den handwerklichen Aspekt der künstlerischen Praxis in den Vordergrund rückt und ein »Klebebild schreibt, und während »Assemblage« im Gegensatz zum deutschen »Materialbild« seltsam ungreifbar bleibt, konnotiert die Bezeichnung »Montage« einen apparatehaften industriellen Zusammenhang. Demzufolge erkennt man in der Montage auch das Aufkommen der Fotografie in der Kunst, und »... die Erfindung der Photographie und deren Rückwirkung auf die Kunst, gilt folgerichtig als Wegbereiter der Montage.
Meist ist auch die Bezeichnung »Montage« direkt verquickt mit der Bezeichnung »Fotomontage«, wohingegen die augenschein­lich »feinere« Bezeichnung »Collage« auf die Spielarten der traditionellen Kunst gemünzt ist, weswegen »Montage« mithin auch einen polemischen Unterton besitzt. Darin klingt subkutan immer noch die oppositionelle Einstellung gegenüber jeder als bürgerlich oder bourgeois aufgefaßten Kunst an, sogar einer Kunst avantgardisti­scher Prägung. So erfreute sich in revolutio­när bewegten Kreisen auch der Film, in dem das technische Mittel zum ästhetischen Prinzip herangereift war, erheblich größerer Aufmerksamkeit als die Kunst. Indes sollte hinzugefügt werden, daß im Film die Montage nicht nur als symbolische Form der Erkenntnis dient, sondern auch als ästhetische Form, die kollektive Empfindungen und Gefühle aufzupeitschen vermag.

Wolf Vostell begreift Montage im allgemeinen Sinne, sicherlich einmal als einzig zwingende ästhetische Symbolform in der Kunst des 20. Jahrhunderts, aber ebenfalls als kollektives Gefäß der Wahrnehmung angesichts einer verwirrenden Welt, die kein archimedischer Punkt außerhalb mehr zu ordnen vermag. Wer einen solchen gleichwohl für sich einfordert, entlarvt sich als hoffnungsloser Illusionist. Dagegen war und ist die »gebrochene« Realität gewichtigster Gegenstand im künstlerischen Werk von Wolf Vostell, eine Realität in morphologischer Vielfalt freilich und nicht reduziert allein auf die sichtbare. Seine empirische Sicht schließt die psychische Wirklichkeit ein, die Welt, die sich nur verschlüsselt und versteckt in bisweilen fintenreicher Weise verrät, nicht zu vergessen den komplexen Kosmos der Erotik, der eingewurzelter Bestandteil der seelischen Welt ist. Ein Künstler mit derart kompliziert verzweigter und verschachtelter Wahrnehmungsfähigkeit hat denn auch ein Werk geschaffen, vor dem die überlieferten ästhetischen Begriffe weitestgehend versagen mußten. Es übergreift die Disziplinen und Medien, und nicht nur jedes Werkstück gehorcht dem ästhetischen Prinzip der Montage, auch seine Gesamtheit läßt sich, wenn überhaupt, nur in der symbolischen Bildform der Montage ermessen.

Ein zeitgenössischer Essay von Claus Bremer aus dem Jahre 1964, damals Dra­maturg am Ulmer Theater, das zusammen mit der ansässigen Galerie »studio f« Vostell zur Realisierung des nachgerade legendär gewordenen Happenings »In Ulm, um Ulm und um Ulm herum« eingeladen hatte, ein als »Aktionsvortrag« ausgeflaggter Aufsatz, illustriert dies trefflich. Das »Happening«, dessen geistige Väter der amerikaische Künstler und Theoretiker Allan Kaprow und Wolf Vostell sind, ist und war eine ästhetische Spielform, angesiedelt zwischen Theater und Bildender Kunst. Nach einem mehr oder minder festgelegten Programm versammelte sich eine Gruppe von Menschen, meist eigens von den Veranstaltern eingeladen, und absolvierte bestimmte, von den Autoren grob umrissene, aber für beide Teile nicht unbedingt vorhersehbare Versuchsanordnungen.


Das Happening amerikanischer Provenienz vollzog sich vorwiegend im Saale, viele der Happenings von Wolf Vostell fanden hingegen im »öffentlichen Raum« statt. »Das Happening, dessen Kompositionsmethode einzelne Bestandteile unseres Alltags so zu kombinieren versucht, daß sie in ihrem Zusammenwirken an sich nichtig und transparent für das uns alle betreffende Ganze werden, ist eine nicht an bestimmte Ebenen oder Räume gebundene Folge von aus vorgefundenen Materialien montierten dynamischen Bildern, denen die Betrachter nicht gegenüberstehen, sondern in die sie als lebendige Elemente mit einbezogen sind«, schreibt Bremer. »Oder anders gesagt«, fährt er fort, »nicht auf die Bilden­de Kunst kommt es an, sondern, auf das Theater bezogen, das Happening, dessen Kompositionsmethode, ich wiederhole es, einzelne Bestandteile unseres Alltags so zu kombinieren versucht, daß sie in ihrem Zusammenwirken an sich nichtig und transparent für das uns alle betreffende Ganze werden, ist eine Folge von Szenen, die durch keinen Bühnenrahmen begrenzt, deren Ausdrucksmittel nicht überhöht und deren Zuschauer als Darsteller mit einbezogen sind«.

Bremer spricht ausdrücklich von montierten Bildern, spricht gleichzeitig aber auch von einer Kompositionsmethode, ein Terminus, der in der Umgangssprache durchaus Mißverständnisse auslösen kann. Obwohl die etymologische Herkunft der Begriffsbildung keinen Vorschub für Mißverständnisse leistet, da sich der Begriff »Komposition« aus dem lateinischen Wort »componere« herleitet, das hier die Bedeutung von »zusammensetzen« erfährt, evoziert er Vorstellungen eines klassisch ausgewogenen ästhetischen Gebildes. Denn formal bezieht sich der Begriff Komposition auf verschiedene Teile und die zwischen ihnen herrschen­den Relationen, und er setzt somit als Drittes eine Vorstellung vom Ganzen voraus. Die daraus resultierende formalistische Definition, wonach Komposition nur die Zusammenfassung von Teilen zu einem einheitlichen Ganzen ist, verlangt nach einer näheren und in der Sache präziseren Bestimmung der Teile, des Ganzen und der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen. Indessen ist das mögliche Mißverständnis keineswegs grundlos, denn die Komposition wird zusammen mit der Reflexion der Malerei nicht vor dem 15. Jahrhundert prononcierter Gegenstand theoretischer Erörterung. Dem 15. Jahrhundert verdankt sich jedoch andererseits die Entdeckung der Perspektive als symbolischer Form, in Leone Battista Albertis literarischem Bild von der Malerei »als Fenster« auf die sichtbare Wirklichkeit am sinnfälligsten zum Ausdruck gebracht. Auch Bremer setzt noch ein wie auch immer beschaffenes »Ganzes« voraus, zu dem sich die »montierten Bilder«
zusammenfügen sollen. Ob er damit auch Wolf Vostells Konzeption vom Happening wiedergibt, läßt sich nur schwer ermitteln. Eine Bemerkung von Jürgen Becker, gemeinsam mit dem Künstler Herausgeber der unschätzbaren Dokumentation »Happenings«, im Vorwort der Publikation würde eine solche Ansicht stützen. Der Schriftsteller zitiert einen nach seiner Meinung anfechtbaren Satz des Künstlers, der lautet: »Meine Happenings sind Ideen, die vom Publikum gelebt werden müssen«. Und kritisiert: »Eben das, was
dem Happening-Teilnehmer an Freiheit des Verhaltens zugebilligt werden soll, wird ihm vorbehalten durch eine übergeordnete Idee (hervorgehoben von Becker), nach der er sich zu verhalten, die er zu leben (hervorgehoben von Becker) hat. Es waren auch politische Ideen, die Staatsherren von ihren Untertanen gelebt haben wollten; und so gesehen, erfüllte ein Vostell-Happening, das subjektiv die äußere Gesellschaftskritik meint, seine Intentionen am ehesten, wenn seine Teilnehmer das strikte Gegenteil dessen ausführten, was seine Idee von ihnen erwartet«. Gleichwohl konzediert er, daß Vostell seinen »Mitspielern« stets diese Ent­scheidung zugestanden habe, und er zitiert einen weiteren Satz des Künstlers: »...jedes Happening ist die Summe von Ja-Nein-Entscheidungen«.


Im Lichte der Montage betrachtet, wäre das Happening infolgedessen eine offene symbolische Form, die im Endeffekt die geschlossene der Komposition aufgesprengt hätte. Die künstlerische Praxis Vostells erhärtet diese Interpretation. Ein Aktionsvortrag, den er im Verein mit Kaprow ebenfalls anno 1964 im Cricket-Theater zu New York inszenierte, zeigte die beiden Protagonisten in einer Wechselrede über die künstlerische Figur des Happenings, während sie gleichzeitig allerlei Tätigkeiten ausübten, die keinerlei einsichtige Beziehungen zum Inhalt der gesprochenen Sentenzen zu unterhalten schienen. Zwischen gesprochener Rede und vollführter Körperaktion klaffte eine Lücke, die man mit dem Besteck der rationalen Vernunft nicht zu überbrücken vermochte. Eine Montage aus einigermaßen rationaler Rede, augenscheinlich spontan gehalten, und scheinbar sinnloser »Performance« - eine Montage, die offensichtlich kein übergeordnetes Ganzes in sich barg.

Wenn Vostell in frühen Texten die Idee seiner Happenings speziell betont, dann hat er die »ästhetische Idee« im Kopf. Als die Fähigkeit »der Darstellung ästhetischer Ideen« definiert Kant das Prinzip, die »Gemütskräfte zweckmäßig in Schwung« zu versetzen, »d. i. in solches Spiel, welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt«. Unter »einer ästhetischen Idee« versteht er »diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt,ohne daß ihr doch irgendein bestimm­ter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pendant) von einer Vernunftsidee
sei, welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann«. Wie alle Künstler, einschließlich der späteren Vertreter der »Concept Art«, mit Ausnähme vielleicht der Gruppe »Art & Language«, die sich, bevor sie reumütig zu einer penetrant realistischen Malerei zurückkehrte, in der philosophischen Spekulation verlor, zielt Wolf Vostell auf die Imagination, die Einbildungskraft, die sich allein in der Anschauung der sinnlichen Erfahrung kundtut. Insofern ist auch die Handhabe der Montage durch den Künstler eher kantianisch als hegelianisch geschweige denn marxistisch gefärbt, auch da, wo seine gesellschaftskritische Einstllung unverhüllt hervortritt. Aus teils vorgefundenen, teils extra hergestellten Materialien, bald technischer Provenienz, bald kraft handwerklicher Verrichtungen produziert, montiert Vostell eine eigenständige ästhetische Welt. Einer­seits autonom im Sinne eines grundsätzlich »Anderen«, reflektiert sich in den einzelnen Werken seines künstlerischen CEuvres zum zweiten die widersprüchliche Wirklichkeit der empirischen Erfahrung - und darüber hinaus auch mancher Bereich, der durch Empirie allein nicht dingfest wird -, so daß sein künstlerisches Schaffen sowohl die Scylla einer durch und durch »engagierten Kunst« umschifft, als auch die Charybdis ei­ner rein »autonomen«. »Jede der beiden Alternativen negiert mit der anderen auch sich selbst: Engagierte Kunst, weil sie, als Kunst notwendig von der Realität abgesetzt, die Differenz von dieser durchstreicht, die des l'art pour l'art, weil sie durch ihre Verabsolutierung auch jene unauslöschliche Beziehung auf die Realität leugnet, die in der Verselbständigung von Kunst gegen das Recht als ihr polemisches Appriori enthalten ist. Zwischen den beiden Polen zergeht die Spannung, an der Kunst bis zum jüngsten Zeitalter ihr Leben hat« (Theodor W. Adorno). In theoretischer Hinsicht folgt Vostell weniger den Spuren Dadas, sonst hätte sich sein künstlerischer Ansatz ohnehin schon längst erschöpft, als den theoretischen Überlegungen Daniel Henry Kahnweilers über die Kunst des Kubismus.

Überlegungen im übrigen, die ganz vom Geiste Kants erfüllt und beflügelt worden sind. Die kubistische Malerei analysierte der vielseitig begabte Kunsthändler, der ihr das nach wie vor gültige theoretische Gerüst erdachte, als eine »peinture conceptuelle«, als eine Malerei, die jener unbestimmbaren Sphäre zwischen reiner Begrifflichkeit und schierer Anschauung entstammt, weder abstrakt noch illusionistisch, eine Malerei, die sich wie die geschriebene Sprache durch sorgfältige Lektüre der Betrachter im Kopf erst anschaulich konkretisiert. In den Gemälden, Zeichnungen und Collagen der Kubisten manifestiere sich eine zwischen dem subjektiven »Erlebnis« des Malers und der nicht weniger subjektiven Seherfahrung der Betrachter vermittelnde Kunst. Diese habe visuelle Zeichen geschaffen, die zwar aus der schöpferischen Phantasie der Künstler sowie der potentiellen Eigenständigkeit des Kunstwerks erwachsen seien, aber »dennoch die Außenwelt« dabei bezeichneten. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, entwickelten die kubistischen Künstler eine spezifische »Bilderschrift«. In dieser Bilderschritt »verfängt« sich nicht nur das Äußerliche, das Erscheinungsbild der Dingwelt, sondern sie ist gleichermaßen imstande, die substantiellen Eigenschaften der abgebildeten Dinge zu veranschaulichen.


Wolf Vostell hat den ästhetischen Ball des Kubismus aufgenommen und weitergespielt, indem er in seinen Happenings und Video-Arbeiten die vierte Dimension integrierte und den ästhetischen Entwurf einer »peinture conceptuelle« zu »l'art conceptuel« ausbaute, noch ehe von einer konzeptuellen Kunst, einer »Kunst im Kopf« die Rede war. Allerdings reduzierte er das künstlerische Konzept nicht auf eine kunstimmanente Frage - das Kunstwerk ist ein Kommentar zur Kunst (Joseph Kosuth) -, vielmehr entwickelte er es zu einer Art geistigen Rahmen für künstlerische Operationen, die sowohl im Kontext der Kunst ihre Funktion ausüben als auch Realität in signifikanter Form zur konkreten Anschaulichkeit bringen. Ein Konzept der Moderne, befeuert von der kantianischen Philosophie. Natürlich war er nicht der einzige Künstler, der sich in den fraglichen Jahren auf diesem schwierigen Terrain bewegte, aber augenscheinlich einer der konsequentesten und zielsichersten. Das ästhetische Prinzip der Montage, in dem sich die Errungenschaften der Moderne in der Kunst errettet haben, auch über die Untiefen der Post-Moderne hinweg, liefert ebensowohl die geistige Antriebskraft seines künstlerischen Werkes als auch sein überzeugendes Anschauungsmo­dell. Womöglich entfaltet es deshalb jene fruchtbare Spannung, die es auch in einer Zeit kultureller Nivellierung und künstlerischer Harmlosigkeit immer noch provokativ wirken läßt.